Wann haben Sie Mikael Niemis Roman Populärmusik aus Vittula entdeckt?

Oh, das ist eine lange Geschichte... Ich war gerade dabei, nach Paris zu fahren, um dort meinen Film Flügel aus Glas vorzustellen, als mich der Produzent Joachim Stridsberg anrief und mir vorschlug, ein Buch zu lesen: Es ging um ”Populärmusik aus Vittula”. Ich kaufte das Buch und las es dann in Paris. Ich mochte es sehr. Es war lustig und tragisch und hatte etwas Erfrischendes und sehr Besonderes. Aber ich hatte das Gefühl, dass das Buch „größer“ sei als meine Erfahrung: ich hatte damals nach etlichen Kurzfilmen erst einen Spielfilm gemacht. Deshalb sagte ich schweren Herzens das Angebot ab, den Film zu machen. Ein Jahr später meldete sich der Produzent wieder. Er hatte eine Drehbuchfassung von Populärmusik vorliegen und bat mich, die zu lesen. Ich fand die Version allerdings nicht wirklich geglückt und schickte meine Anmerkungen dazu.

Während ich an meinem zweiten Spielfilm Cappriciosa arbeitete, meldete sich Joachim Stridsberg zum dritten Mal und bot mir wieder die Regie für Populärmusik an. Er legte vier verschiedene Fassungen des Drehbuchs vor, ich sollte auswählen, welche ich nehmen wollte. Da mir keine Fassung wirklich gefiel, sagte ich nur unter der Bedingung zu, dass ich das Drehbuch selbst schreiben würde – und der Romanautor Mikael Niemi müsse mit meiner Fassung einverstanden sein.

Ich schrieb dann das Drehbuch auf der Basis einer Fassung von Erik Norberg und schickte es Mikael Niemi. In der Silvesternacht rief er mich kurz nach Mitternacht an: Er mochte das Drehbuch sehr. Das war schließlich das Okay für mich, den Film zu machen.

Mit welchen Überlegungen sind Sie an die Bearbeitung der Romanvorlage gegangen?

Ich habe mich auf vier Themen konzentriert, mit denen ich die fragmentarischen Erzählungen des Romans  verbinden wollte. Erstens die Musik, also den Rock‘n Roll und seine Bedeutung für die Jungen und ihre Freundschaft; zweitens Sexualität und Pubertät; drittens die besondere Freundschaft zwischen Matti und Niila und die Möglichkeit des Verrats. Das vierte Thema war für mich der religiöse Fanatismus, der Niilas Familie und seine Kindheit prägt.

Es war während der ganzen Arbeit am Film, beim Schreiben, beim Drehen und im Schnitt immer mein Ziel, dass der Film auf eigenen Füßen stehen sollte: Das Buch gelesen zu haben, sollte nicht die Voraussetzung dafür sein, den Film zu verstehen. Das ist uns, glaube ich, gelungen.

Ein anderer wichtiger Aspekt war die Kombination von Komik und Tragik. Die Leute, die Populärmusik aus Vittula gelesen haben, sagen meistens, es sei ein lustiges Buch. Das ist es auch. Aber es ist eben nicht nur amüsant, sondern auch voller Dramatik und Tragik. Ich habe versucht, diesen Aspekt mit im Film zu haben – und einen Film zu machen, den ich selbst gerne sehen würde.

Standen Sie während der Arbeit am Film im Austausch mit Mikael Niemi?

Schon während ich in Stockholm am Buch schrieb, hatte ich natürlich Kontakt mit Mikael. Für die Arbeit an der letzten Version habe ich dann einige Zeit direkt in Pajala gelebt, um die Atmosphäre, die Landschaft und die Leute kennenzulernen. Es hat sich gezeigt, dass das das Beste war, was ich machen konnte. Zu dieser Zeit habe ich Mikael dann fast täglich getroffen. Später während der Dreharbeiten hat das natürlich abgenommen.

Steht man als Filmemacher unter einem besonderen Druck, wenn man einen so erfolgreichen Roman als Vorlage hat?

Vor mir hatten schon vier Regisseure die Aufgabe dankend abgelehnt. Der Erfolg des Buchs beim Publikum und bei den Kritikern im In- und Ausland war ihnen zu groß. Sogar in meinem Umfeld haben mir viele von dem Projekt abgeraten, weil sie meinten, das Projekt sei eine Kamikazeaktion, ein künstlerischer Selbstmord.

Wie haben Sie Ihre Schauspieler gefunden – viele von ihnen stammen ja selbst aus Pajala?

Ich mache es regelmäßig so, dass ich mit einer Mischung aus professionellen Schauspielern und  Laien arbeite; diese Kombination gefällt mir gut. Viele der Darsteller in Populärmusik sind aus der Region. Der Busfahrer z.B. ist wirklich Busfahrer in Pajala,  genauso ist es mit dem Schuldirektor. Die Leute mochten das. Es war der erst Film in Pajala, der mit der Beteiligung von einheimischen Akteuren gedreht wurde, was sehr bereichernd und lustig war – für sie wie für mich. Wir haben eigentlich grundsätzlich Schauspieler ausgewählt, die einen norrländischen Dialekt hatten oder Finnisch sprechen konnten, was das Casting zu einem ziemlich aufregenden und langwierigen Unterfangen gemacht hat.

Für die Rollen der Kinder und Jugendlichen haben wir ein Casting mit 4000 Kandidaten gemacht. Wir wollten am liebsten Jungen aus Pajala oder der Umgebung. Aber wir haben niemanden gefunden, der die Rolle hätte spielen können. Am Ende haben wir die beiden Mattis – als Kind und Teenager – in Stockholm und die beiden Niilas in Helsinki gefunden.

Eine zusätzliche Komplikation war natürlich die Musik, da die Band echt sein sollte. Andreas Af Enehielm als Niila konnte wirklich gut Gitarre spielten, und Ville Kivelä, der Darsteller von Erkki, hatte Grundkenntnisse fürs Schlagzeug. Max Enderfors und Filip Pachuki als Holgeri mussten innerhalb eines Vierteljahres lernen, ihre Instrumente zu spielen, was wirklich harte Arbeit war.

Ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine besondere Herausforderung für den Regisseur?

Ich finde es sehr spannend, auf diesem Niveau mit Kindern oder Jugendlichen zu arbeiten. Es ist, als würde man sich selbst im Spiegel sehen. Es funktioniert nicht, sie mit Tricks dorthin manipulieren zu wollen, wohin man sie als Regisseur haben möchte. Man muss sich selbst als Kind wiederentdecken, was manchmal sehr anstrengend sein kann.

Wie lange haben Sie an Populärmusik aus Vittula gearbeitet?

Die Arbeit am Buch hat etwa acht Monate gedauert, die Dreharbeiten insgesamt 50 Tage; davon 35 im Sommer und 15 im Winter. Am Schnitt haben wir ein halbes Jahr gearbeitet.

Sie sind mit 17 Jahren aus dem Iran nach Schweden gekommen. Hat dieser Hintergrund Ihren Blick auf Populärmusik aus Vittula geprägt?

Als ich aus Teheran wegging, war ich genau so alt wie Niila.  Es ging mir so wie am Ende des Films, als Erkki meint, dass Niila bestimmt wieder zurück kommen würde – aber Matti antwortet: “Er hat keinen Grund, wieder zurück zu kommen.“ Ich bin seit damals nicht wieder in Teheran gewesen, und bis jetzt habe ich es auch nicht vor.

Eine andere Gemeinsamkeit ist die Musik. Wir wussten als Jugendliche im Iran, dass die „richtige Musik“ aus dem Westen kommt: London, New York, Paris... Mein absolutes Idol damals war Tom Jones. Eines Tages kam ein Junge zu uns zu Besuch, der in London studierte. Ich wollte ihm impo-nieren und legte eine Kassette von Tom Jones ein. Mein Besuch amüsierte sich sehr und erklärte mir, dass in England nur Rentner Onkel Tom Jones hören würden. Das war das Ende meiner Illusionen.

Populärmusik spielt in den 60er und 70er Jahren. Sehen Sie einen aktuellen Bezug zu unserer heutigen Zeit?

Ich habe Mikael Niemis Roman niemals als nostalgischen Trip gesehen. Hätte ich ihn so aufgefasst, hätte ich mich niemals darauf eingelassen, einen Film daraus zu machen. Für mich geht es in erster Linie um die vier Themen, die ich vorhin genannt habe, also um die Kollision von Kreativität mit gesellschaftlichen oder familiären Begrenzungen, Sexualitität und Pubertät, Freundschaft und Verrat. Und letztendlich um eine fundamentalistische Art der Lebensgestaltung, die die Freiheit des Einzelnen einengt und die gerade wieder aufzublühen scheint, vor allem in muslimischen Ländern. Gibt es ein aktuelleres Thema?

Populärmusik aus Vittula
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